Ästhetik für Handelsfürsten – und Büronutzer. Die Hamburger Speicherstadt wandelt sich zu einem modernen Arbeitsquartier

Von Sabine Richter. Momeni, Nowbari, Wahdaf und ähnlich fremdländische Namen stehen auf den Firmenschildern der Speichergebäude, in den offenen Luken sitzen bärtige Männer um runde Messingtische und trinken Tee. Der Duft von Kaffee, Tee und Gewürzen zieht an den Fronten der Speicher vorbei. Wenn die Fahrer der Speditionen über die Kornhausbrücke rollen, kommen sie in eine Welt, in der die Zeit in den letzten 100 Jahren vorübergegangen zu sein scheint.

Dieses allerdings nur auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen finden sich neben Schiffsausrüstern, Teppichhändlern und allerlei Traditionsunternehmen immer öfter Werbeagenturen, Anwaltskanzleien, Modevertriebe, Restaurants und kulturelle Einrichtungen.

Die Hamburger Speicherstadt, mit knapp 300 000 Quadratmetern Fläche größter Lagerhauskomplex der Welt, liegt im nordöstlichen Teil des Hamburger Hafens, vom Altstadtkern trennt die Speicherstadt der Zollkanal, mehrere Brücken stellen die Landverbindung her. Mehr als 100 Jahre lagerten in der Hamburger Speicherstadt ausschließlich Hafenwaren, wie Kakao, Teppiche, Gewürze, Kaffee und Tee.

Fast unbemerkt für nicht Immobilieninteressierte hat sich in Hamburgs größtem Baudenkmal fast alles radikal verändert. Die „Entlassung“ aus der Freihafenzone und der Bau der Hafencity, wie die Speicherstadt ein Jahrhundertprojekt, haben die Voraussetzungen für eine Nutzungsänderung hin zu einem modernen Arbeitsquartier geliefert. Büros, Gastronomie, Kunst und Mode bestimmen mehr und mehr das Geschehen in den alten Speichern. „Dialog im Dunkeln“, die historische Gruselshow „Hamburg Dungeon“ oder die Musical-Akademie der „Stage Holding“ sind längst Begriffe in Hamburg. Für ihre Geschäftszwecke sind die Speicher komplett umgebaut worden. Zu den großen Umnutzungen zählt das Gebäude der
Hamburger Hafenverwaltung Port Authority (HPA) in den umgebauten Speicher Block P an der Straße Neuer Wandrahm, direkt am Zollkanal. Der 1893 gebaute und immerhin 127 Meter lange Gebäudekomplex wurde für 20 Mio. Euro zu einem Büro umgebaut. Mit großen Lichthöfen in der Mitte und hohen Bürofenstern, die von außen noch immer an die alten Speichertore erinnern.

„Wir entwickeln das Gebiet behutsam zu einer Art Brücke zwischen Innenstadt und HafenCity", sagt Thomas Kuhlmann, Leiter des Unternehmensbereichs Immobilien bei der (weitgehend städtischen) HHLA, der das Areal gehört.

Einer der Vorreiter für die Veränderungen sind die Brüder Frederik und Gerit Braun vom Miniaturwunderland. Vor neun Jahren haben sie mit 1 600 qm angefangen, inzwischen erstreckt sich ihre Eisenbahnanlage über 6 000 qm und ist eine hochfrequentierte Attraktion für Touristen wie Hamburger. Sie liegt in Block D, das ist der erste von 17 Blocks, den die HHLA entwickelt hat. Die sechs bis achtstöckigen Speicher wurden im Innern vollständig modernisiert, mit neuer Technik, Brandschutz, Fluchtwegen und neuen Treppenhäusern versehen worden.

Diese Entwicklung zu einem modernen Arbeitsquartier will die HHLA, die die Immobilie seit 120 Jahren bewirtschaftet, forciert weiterbetreiben. Weitere Speicherflächen sollen modernisiert und bedarfsgerecht umgewandelt werden. „Unsere Aufgabe ist es, zum einen das Speicherensemble wirtschaftlich nachhaltig zu entwickeln und zum anderen den einzigartigen Charakter der denkmalgestützten Speicherstadt zu bewahren“, so Kuhlmann.

Mit der neuen Hafencity wird die Mitte Hamburgs neu justiert, Speicherstadt und Kontorhausviertel sind damit Herzstück der Hamburger City – also eine 1A-Lage für urbanes Arbeiten und Wohnen. Denn inzwischen ist in der Speicherstadt sogar Wohnen möglich, bisher ein absolutes Tabu, denn Wohnungen sind im Hafengebiet grundsätzlich verboten. Bei Hochwasser müssten die Bewohner evakuiert werden. Vier Wohnbüros sind bzw. waren im Angebot, sie liegen im Speicherblock N im fünften und sechsten Boden und sind zwischen 132 und 212 Quadratmeter groß. Wie bei allen modernisierten Objekten blieben viele traditionelle Elemente wie Lukentüren und Holzböden erhalten. Die Kaltmiete liegt nach Angaben der HHLA zwischen 16 und 17 Euro pro Quadratmeter.

Möglich ist das nur, weil es mit der Kibbelstegbrücke einen Fluchtweg aus dem hochwassergefährdeten Bereich gibt. Kuhlmann wünscht sich aber mehr Wohnungen und Kulturnutzungen, bisher werden dafür 30 000 Quadratmeter genutzt, für die Speicherstadt. Das würde zur Belebung und Durchmischung beitragen, denn am Abend ist das Areal plötzlich gespenstisch leer. Die Hoffnungen liegen in der Nominierung als Weltkulturerbe und der Einbeziehung in den Hochwasserschutz. Bisher säuft das schöne Gelände während der Herbststürme regelmäßig ab.

Die Speicherstadt sei zu schön, um darin Säcke zu stapeln, waren schon vor Jahrzehnten die Argumente derer, die für einen Verkauf der Speicherstadt und eine Umnutzung waren. Sie lagen noch in den neunziger Jahren mit den Traditionalisten in Dauerclinch. Die Quartiersleute, früher die wahren Herren der Speicherstadt, viele hatten ihren „Miethe-Contract“ schon in der vierten Generation, kämpften verbissen um die Erhaltung des traditionellen Quartiers als Lagerfläche. Hier sind die schwarzen Telefone, bei denen die Hörer noch auf der Gabel liegen, noch nicht lange ausgestorben, im Flur wird der Besucher vielfach immer noch durch das Schiebefenster hereingebeten.

Ein Drittel des denkmalgeschützten Geländes soll dauerhaft als Lagerkomplex erhalten bleiben. Schon wegen des einzigartigen Ambientes. Mit 60 000 Quadratmetern stellen die Teppichhändler das größte Klientel, die Speicherstadt ist immer noch das größte Teppichlager der Welt. Sie sollen am Ort gehalten werden, weil sie das Quartier prägen, aber auch weil sie mit der alten technischen Infrastruktur und dem Zustand der Flächen zufrieden sind. Wie vor 100 Jahren werden die Teppiche mittels Winden in Bündeln oder Rollen aus den LKW in die Luken gehievt. Lagerflächen kosten je nach Lage und Ausstattung zwischen vier und sechs Euro.

Zählt man die dazugekommenen Showrooms von Modefirmen dazu, werden in der Speicherstadt rund 160 000 Quadratmeter als Lagerfläche genutzt. Immer mehr Firmen der Branche haben hier ihren Vertrieb und zeigen Großkunden in ausgefallener Umgebung Musterware. Acht bis zehn Euro kosten renovierte Showrooms pro Quadratmeter und Monat.

Waren aller Art finden hier sehr günstige Lagerbedingungen. Die dicken Mauern lassen die Temperaturen im Innern nie unter Null grad sinken und über 20 Grad steigen – die ideale Klimatisierung für empfindliche Waren oder teure Teppiche, die hier ja oft über Monate lagern, bevor sie weiterverkauft werden. Die traditionellen Güter wie Gewürze, Tee und Kaffee spielen in der Speicherstadt aber keine große Rolle mehr, ihr Duft kommt heute eher aus dem Gewürzmuseum, dem Tee- oder dem afghanischen Museum, wo Besucher exklusive Kaffeesorten testen können. Jetzt zieht auch die Neumann-Gruppe, ein großer Kaffee-Kunde, weg in ein eigenes Gebäude.

Die sechs- bis achtstöckigen Speichergebäude sind den Anforderungen eines modernen Warenumschlags nicht mehr gewachsen, die Kosten sind den mit hoher Lohnintensität arbeitenden Quartiersleuten schon lange über den Kopf gewachsen, erklärt HHLA-Mann Thomas Kuhlmann. Der Bedarf für Lagerflächen in der Speicherstadt sei langsam aber stetig zurückgegangen. Der Leerstand liegt dann auch bei 20 Prozent, leer ständen vor allem unrenovierte Böden, während die renovierten Flächen voll vermietet seien, so Kuhlmann.
90 000 Quadratmeter werden inzwischen als Bürofläche genutzt, für neun bis 18 Euro pro Quadratmeter und Monat. Zum Vergleich: die Durchschnittsmiete liegt in Hamburg bei 13,40 Euro pro Quadratmeter, die Spitzenmiete bei 24 Euro. Büros werden ab 70 Quadratmeter angeboten, je nach Block und Boden sind auch sehr große Flächen möglich.

Die HHLA als Vermieterin verspricht potentiellen Nutzern alles was das Herz begehrt, modernste Technik, beste Belichtung, flexible Nutzung und Raumaufteilung sowie hocheffiziente Flächenprofile. Die Prospekte sprechen vom maßgeschneiderten Umbau einer kompletten Immobilie mit eigener Baubetreuung, vom schnellen Bezug eines attraktiven Kontorhaus-Büros bis zum Umbau eines ganzen Speicherblocks. Natürliche Grenzen setzten nur gegebene Raumtiefen und die historische Stützenstruktur.
Die Konkurrenz der Flächenanbieter ist groß, der Leerstand im Bürobereich beträgt in Hamburg bereits knapp unter acht Prozent und wird aufgrund der massiven Bautätigkeit weiter ansteigen. Dieses und kommendes Jahr dürften 630 000 Quadratmeter neu auf den Markt kommen. Insbesondere in unmittelbarer Nachbarschaft der Speicherstadt, in Hafencity und Überseequartier, wachsen zahlreiche neue Bürobauten in den Himmel.

Allerdings sind die Speicherbüros in ihrer gediegenen Ästhetik konkurrenzlos schön, das Ambiente einmalig. Zeitgenossen der Erbauungsphase bewunderten den „überall wahrnehmbaren Zug der Großartigkeit“. Tatsächlich vereinen sich im Gebäudekomplex Lagerzweck und Baukunst in eindrucksvoller Weise. Die Backsteinarchitektur von Oberingenieur Franz Andreas Meyer ist zwar an sich solide, aber Fachwerkgiebel, keramische Ornamente und Glasursteine lassen die Blocks wie gotische Kathedralen unter grün oxydierten Kupferdächern wirken. Die Maschinerie hydraulischer Winden, die ihre Last auf die Speicherböden hievt, sind unter Türmchen und Söllern versteckt. Die Lagerhäuser grenzen an der einen Seite an Fleete. Früher wurden die Waren mit Schuten von den Seeschiffen hergebracht. Pferdefuhrwerke, später Lastwagen, transportierten zu Lande, von der Straßenseite der Speicher.

Zur offiziellen Einweihung der Speicherstadt kam Kaiser Wilhelm II am 29. Oktober 1888 nach Hamburg. Auf der Brooksbrücke legt der Regent, er trägt Pickelhaube, mit den Worten „zur Ehre Gottes, zum Besten des Reiches, zu Hamburgs Wohl“ den Schlussstein für die Speicherstadt. Eine eher symbolische Handlung, denn an dem Viertel wurde noch länger als zwei Jahrzehnte weitergebaut. Die Schlusssteinlegung war auch das Ende jahrelanger politischer Querelen zwischen Hamburg, damals der nach London größte Hafen Europas, und dem Reich über den Zollanschluss. Der (zollfreie) Freihafen war eine Art Trostpflaster für die verlorengegangenen Privilegien durch den Anschluss ans Reich. Auf einem begrenzten Areal sollte innerhalb des Freihafens ein Gebäudekomplex entstehen, der Hamburg als Handelsplatz konkurrenzfähig macht. 24 000 Einwohner wurden zwangsweise umgesiedelt. 106 Millionen Goldmark sollte der Bau nach Kostenvoranschlag kosten, es wurden 112,7 Millionen, eine für heutige Verhältnisse geringfügige Überschreitung. Während des zweiten Weltkriegs wurde die Speicherstadt etwa zur Hälfte zerstört, allerdings blieben die Fassaden aufgrund der solide Bauweise erhalten. Die Rekonstruktion ist dem Architekten Werner Kallmorgen zu verdanken. (gi24/DIB Nr. 198)

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