Millionen Menschen ohne ausreichende Nahversorgung

Von Ruth Vierbuchen. Im preisaggressiven deutschen Lebensmittelhandel haben die kleinen Geschäfte ihre Existenzgrundlage verloren.

Kleine Gemeinden mit weniger als 3 500 Einwohnern haben die Filialisten bei ihrer Expansion nicht mehr auf dem Radar. So können bundesweit etwa 8 Mio. Menschen ihren kurzfristigen Bedarf nur noch unzureichend decken. Mitte der 1980er-Jahre rutschte die Hamburger Edeka in die roten Zahlen. Hauptgrund: Die Filialen der selbstständigen Kaufleute waren im Schnitt zu klein. Folge: Die Belieferung der zahlreichen kleinen Märkte – mit kleinen Mengen – ließ die Transportkosten aus dem Ruder laufen. Das System war zu ineffizient und zu teuer. Als Konsequenz aus der Misere zog sich Edeka 1985 aus der Öffentlichkeit zurück und ging systematisch daran, das Filialnetz einer Um- und Neustrukturierung zu unterziehen, um Jahre später als Deutschlands größter Lebensmitteleinzelhändler zurück zu kehren. Der Fall Edeka zeigt plakativ, welcher Strukturwandel in den 1980er-Jahren im hart umkämpften deutschen Lebensmitteleinzelhandel mit seinen niedrigen Umsatzrenditen einsetzte. Höchste Kosteneffizienz und das Streben nach günstigen Einkaufskonditionen durch Bündelung von Einkaufsmengen setzte einen immensen Konzentrationsprozess in Gang. Hinzu kam, dass die Lebensmittelsortimente immer größer wurden und der Flächenbedarf wuchs.

Der Wandel ist an den Zahlen ablesbar

Jahre später ist der Wandel an den statistischen Zahlen abzulesen: So sank im Zeitraum von 1995 bis 2007 die Zahl der Lebensmittelgeschäfte von 75 700 auf 51 400. Vor allem kleine Geschäfte verschwanden. Gleichzeitig stieg der Umsatz von 111,4 Mrd. Euro auf 130,7 Mrd. Euro, wie die Münchener BBE Handelsberatung/IPH Immobilien in ihrem Report Nahversorgung feststellt. 2010 werden 134 Mrd. Euro erwartet. In diesem Umfeld vereinen die sechs größten Lebensmittelhändler Deutschlands (Edeka, Rewe, Aldi, Lidl, Kaufland, Metro/Real) 90% des Umsatzes auf sich. Der Trend geht weiter zu größeren preisgünstigen SB-Warenhäusern und Verbrauchermärkten. „Das Netz der Lebensmittelmärkte wird weitmaschiger, kleinere Betriebe können sich an ihren Standorte nicht mehr halten“, stellt die BBE fest. In die Klemme gerieten neben den kleinflächigen Lebensmittelfachgeschäften – „Tante Emma Läden“ – auch die Supermärkte, die nicht das gesamte Sortiment darstellen können.

Und zwar von zwei Seiten: Auf der einen Seite die Großflächen am Stadtrand, auf der anderen Seite die Lebensmitteldiscounter, die den größeren Supermärkten mit ihren preisaggressiven Sortimenten aus Schnelldrehern die preisbewussten Kunden abjagen. Zwar haben die etablierten Lebensmitteleinzelhändler alle ihr eigenes Discount- Sortiment entwickelt, das in Kernbereichen mit den Preisen der Discounter mithalten kann, doch benötigen sie mit ihren etwa 12 000 Artikeln, für eine Grundversorgung größere Verkaufsflächen als die Discounter. Und kollidieren so mit der Novelle von § 11,3 BaunutzungsVerordnung, die es den Kommunen erlaubt, in Stadtteilen und Randgebieten die Verkaufsfläche auf 800 qm zu beschränken. Discounter kommen mit den kleineren Flächen aus – Supermärkte zumeist nicht. Nach Einführung des Euro 2002 profitierten die Discounter zudem davon, dass sich in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck verstärkte, dass die Preise mit der Währungsumstellung gestiegen seien.

Die Discounter warben dagegen mit Preissenkungen. So stellt die BBE fest, dass die Discounter auch 2007 wieder die Gewinner waren: „Die Zunahme der Verkaufsstellen um 2,8% auf 15 219 wurde begleitet von einer Umsatzsteigerung um 2,4% auf 55,2 Mrd. Euro.“ Allerdings wachsen auch hier die Bäume nicht in den Himmel. Die Zuwachsraten verlangsamen sich und es werden auch hier Sättigungsgrenzen sichtbar. Diesem Trend versuchen die Discounter laut BBE „mit zunehmender Nachverdichtung, Verlagerung an größere Standorte und Diversifikation des Angebotes wie Dienstleistungen und Reisen“ entgegen zu wirken. Folge ist einerseits, dass die Discounter vielfach die kleineren Vollsortimenter verdrängen und in struktur- und kaufkraftschwachen Regionen die Funktion des Nahversorgers übernehmen. Was nicht unbedingt zur Qualitätssteigerung der Nahversorgung beiträgt. Andererseits führt die mangelnde Rentabilität kleiner Lebensmittelfachgeschäfte dazu, dass die Nahversorgung so ausgedünnt wird, dass laut Bundesverbraucherzentrale in Deutschland etwa 8 Mio. Menschen bei der Deckung des kurzfristigen Bedarfs unterversorgt sind.

Es gibt ganze Gemeinden, in denen es keine Lebensmittelgeschäfte mehr gibt. Gleichzeitig führen der demographische Wandel mit der wachsenden Zahl älterer, wenig mobiler Menschen und die steigenden Benzinpreise dazu, dass der gut sortierte Supermarkt an der Ecke – im Umkreis von 500 bis 800 m – wieder an Bedeutung gewinnt. Supermarkt-Betreiber wie Rewe, Edeka und Tengelmann reagieren seither mit neuen Konzepten auf die Renaissance des Nahversorger-Supermarkts: Rewe mit seinem City Markt, Tengelmann mit dem Konzept „schwarz-rot-gold“ und auch Edeka macht sich die große Zahl selbstständiger Kaufleute zunutze, die sich mit ihrem unternehmerischen Gespür auf die regionalen Gegebenheiten einstellen können.

So registriert die BBE seit 2007/08 im Segment Supermarkt eine gewisse Dynamik. Viele innerstädtische Märkte, in denen jahrelang nichts passiert ist, werden umgebaut. Bleibt das Problem der fehlenden Nahversorgung im ländlichen Raum. „Kleinere Gemeinden unter 3 500 Einwohner bzw. Ortschaften unter 2 000 Einwohner haben unter dem Gesichtspunkt der derzeitigen Ansiedlungsanforderungen der Lebensmittel- Filialisten, kaum mehr Möglichkeiten, die Nahversorgung sicher zu stellen“, resümiert die BBE, sofern es keinen örtlichen Händler mit persönlichen Einsatz gibt. Um die Nahversorgung dennoch sicher zu stellen, schlagen die Experten vor, den Lebensmittelmarkt durch Dienstleistungen wie Postagentur und Postbank, Versandagentur oder als Stützpunkte für Dienstleister, Apotheken und Ärzte-Dienste zu ergänzen. Wichtig bei der Nahversorgung ist, dass die Bürger hier noch schnell die „Vergess-Artikel“ kaufen können und regionale Ware, Spezialitäten oder qualitativ hochwertige Produkte bekommen. Das zählt dann mehr als der niedrige Preis. Und schließlich dient der Einzelhandel als sozialer Treffpunkt – vor allem für ältere Menschen.

Um einen solchen Laden realisieren zu können, schlagen die BBE-Experten beispielsweise die Gründung einer Initiativgruppe „Nachbarschaftsladen“ vor. Hier können sich Mitglieder mit Stammeinlagen von je 150 – 500 Euro beteiligen. Eine andere Variante wär die Gründung einer Betreiber- Gesellschaft. Gefragt ist also wieder die Eigeninitiative der Bürger.  (Gi24/HIR, Nr. 61)

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